Ultimative Gedächtnisse und das Recht auf Vergessenwerden

Durch die neue Datenschutz-Grundverordnung (DS-GV) soll ein Recht auf Vergessenwerden (Art. 17) für Bürger eingeführt werden. Ob dieser gesetzgeberische Vorschlag wirklich so neu und innovativ ist oder doch eher eine erweiterte Form des bereits bestehenden Rechts auf Löschung von personenbezogenen Daten (§ 20 BDSG) beinhaltet, mag hier dahingestellt sein. Daten und Informationen, die im Internet veröffentlicht werden, sollen auf jeden Fall nicht ewig abrufbar sein, sondern unter bestimmten Voraussetzungen im Nachhinein gelöscht werden können.

Die EU-Kommission bewirbt dieses Recht häufig als eine Art Meilenstein für die Zukunft des Datenschutzrechts und die Privatsphäre der Bürger in Europa. Die Betroffenen sollen die Macht über ihre eigenen Daten behalten. Dennoch gibt es viele Gegenstimmen (nicht nur unter den Internetkonzernen), die vor allem die technisch fast unmögliche Durchsetzbarkeit dieses Rechts in der realen Online-Welt bemängeln.

Die digitalen Gedächtnisse der Zukunft
Anfang April nun hat Britische Nationalbibliothek angekündigt, dass sie in diesem Jahr, gestützt auf ein neu geschaffenes Gesetz (The Legal Deposit Libraries Regulations 2013), auch digital verfügbare Inhalte im Internet (auf Internetseiten die unter der Top Level Domain des Vereinigten Königreichs betrieben werden) archivieren wird. Mit „harvester“ Methoden werden so Millionen von Webseiten abgegrast und die dort veröffentlichte Inhalte gespeichert und für die Zukunft archiviert. Ein ultimatives digitales Gedächtnis.

Nun ist diese Form der Archivierung nicht unbedingt neu. Denn etwa auch die deutsche Nationalbibliothek archiviert digital verfügbare Publikationen, derzeit jedoch noch nicht frei zugängliche Webseiten wie Blogs und Foren.

Im Rahmen der in England neu geschaffenen Gesetze wird es den teilnehmenden Bibliotheken nun jedoch auch möglich sein Informationen von jeglicher im Internet öffentlich zugänglicher Webseite (welche dem Vereinten Königreich zugeordnet ist) zu archivieren. Hierher gehören dann auch öffentliche Informationen, die etwa auf einer Facebook-Seite gepostet wurden oder auch Tweets. Im Prinzip jegliche Information die öffentlich, über England zugeordnete Webseiten, abrufbar ist.

Rechtliche Aspekte
In der neuen Datenschutz-Grundverordnung finden sich für solch eine Datenverarbeitung zu historischen und wissenschaftlichen Zwecken mehrere Ausnahmetatbestände, welche die Speicherung und spätere Zugänglichmachung dieser Informationen grundsätzlich privilegieren (vgl. etwa Art. 6 Abs. 2, Art. 17 Abs. 3 lit c) und Art. 83 DS-GV). So wird insbesondere das neue Recht auf Vergessenwerden bei der Archivierung zu historischen und wissenschaftlichen Zwecken praktisch aufgehoben, Art. 17 Abs. 3 lit c) DS-GV. Zudem dürfen so verarbeitete Daten (also etwa Blogbeiträge oder Posts in sozialen Netzwerken) wiederum veröffentlicht werden, wenn die betroffene Person die Daten vorher selbst veröffentlicht hat, Art. 83 Abs. 2 lit c) DS-GV.

An dieser gesetzgeberischen Entscheidung zur Privilegierung der Wissenschaft und der Bibliotheken ist nun auch nichts auszusetzen. Vielmehr erscheint sie gerade vor dem Hintergrund geboten, dass Geschichte eben Geschichte ist, wie sie tatsächlich geschah und so auch für die Nachwelt konserviert werden sollte. (UPDATE, 11.4.2013: Niko Härting hat sich Gedanken zu dem Recht auf Vergessenwerden in Archiven gemacht und weißt zu recht auf mögliche Gefahren für eine zukünftig unverfälschte Geschichte hin, sollten die geplanten Regelungen so in Kraft treten.)

Probleme ergeben sich jedoch aus meiner Sicht daraus, dass eine Veröffentlichung von personenbezogenen Daten heutzutage oft nicht willentlich geschieht oder auch auf fehlenden gesetzlichen Grundlagen beruht. Man wird selbst etwa in einem öffentlich einsehbaren Eintrag in einem sozialen Netzwerke in einem Zusammenhang erwähnt, der z. B. Jahre später ein schlechtes Licht auf einen selbst werfen könnte. Wie wird man mit Informationen umgehen, die zwar entsprechend Art. 83 Abs. 2 lit c) DS-GV veröffentlicht wurden, dies jedoch nicht rechtmäßig geschah? Muss es also eine Art Fortwirkung der Rechtswidrigkeit einer Datenverarbeitung geben?

Zwar bietet etwa Art. 83 Abs. 2 lit b) DS-GV die Möglichkeit einer Abwägung der sich gegenüber stehenden Interessen. Wie wir etwa aus der Rechtsprechung des BGH zu Presseberichten in digitalen Online-Archiven wissen, geht eine solche Interessenabwägung zumindest bei öffentlichkeitswirksamen und für die Gesellschaft relevanten Ereignisse zumeist für die speichernde Stelle aus.
Fraglich erscheint jedoch, inwieweit an Informationen ein historisches oder wissenschaftliches Interesse besteht, die etwa in sozialen Netzwerken bereitgestellt wurden. Ein solches wird gerade in privat genutzten Diensten häufig nicht vorliegen. „Abgegrast“ werden sie dennoch.

Tatsächliche Aspekte
Das eigentliche Problem liegt jedoch wohl nicht so sehr auf der rechtlichen, sondern vielmehr auf der tatsächlichen Ebene. Vielen Betroffenen wird überhaupt nicht bewusst sein, dass solche massenhaften Archivierungsmaßnahmen durchgeführt werden.
Um den Bürgern Europas, wie von der EU-Kommissarin Reding gefordert die Kontrolle über ihre Online-Identität (zurück) zu gewähren, ist jedoch ein Beuwsstsein und die Kenntnis der Bürger von über sie gespeicherte Daten erforderlich und an wen sie sich zur Durchsetzung ihrer Rechte wenden können.
Kaum ein Bürger wird sich zudem daran machen und etwa Archive nach seinem Namen durchforsten. Eine gewisse Realitätsferne lässt sich wohl nicht leugnen.

Mit den bestehenden massenhaften Datenströmen und immer größer werdenden Speicherkapazitäten geht wohl einfach unweigerlich die Un-Vergessbarkeit von im Internet bereit gestellter Informationen einher. Den Bürgern ein Recht auf Vergessenwerden zu gewähren erscheint daher von der richtigen Grundambition getragen zu sein, wird jedoch tatsächlich kaum Effekte erzielen, wenn den Betroffenen nicht klar ist, wer wann und wo was über sie speichert.

Erfolgsversprechender erscheinen mir hier technische Ansätze, wie sie etwa Mayer-Schönberger in seinem Buch angedacht hat. Möchte man, dass das Internet und Daten verarbeitende Stellen heutzutage, in Zeiten das quasi unbegrenzten Speicherplatzes, wirklich „vergessen“, bedarf es eines technischen Zwangs, wie etwa Ablaufdaten. Möchte man (gesellschaftlich und politich) ein solches Recht bzw. eine Tugend des Vergessens, auch im Internet, wirklich durchsetzen, wird allein die Bereitstellung von rechtlichen Ansprüchen auf eine Löschung, aufgrund der Unübersehbarkeit der Datenmassen und der Verarbeitungsprozesse, nicht ausreichen.

One thought on “Ultimative Gedächtnisse und das Recht auf Vergessenwerden

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